Das Recht des Haager Tribunals und die empfundene Ungerechtigkeit auf dem Balkan!

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Im Jahr der Beendigung seiner Tätigkeit erließ das Haager Tribunal sein letztes Urteil und verurteilte den serbischen General Ratko Mladić in erster Instanz zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Das Urteil entfachte auf dem Balkan erneut nationale Leidenschaften, es führte zur Enttäuschung der einen und zum Jubel der anderen Bürgerkriegsakteure im ehemaligen Jugoslawien.
 
von Marinko Učur
 
Für Muslime, und teilweise auch für Kroaten, stellen die vom Haager Tribunal gefällten Urteile international erworbenes Recht da, doch für Serben sind sie eine international erworbene Ungerechtigkeit. Die unverhältnismäßig langen Gefängnisstrafen, die den Serben im Vergleich zu anderen Völkern auf dem Balkan verhängt wurden, bezeugen dies am besten: Serben – 1400 Jahre; Kroaten – 294 Jahre; Muslime – 42 Jahre; Albaner – 13 Jahre und Mazedonier – 12 Jahre.
 
Trotz der Verkündungen der Haager Richter, wonach die Vorgerichtstellung aller Angeklagten zur Versöhnung und Toleranz auf dem Balkan führen werde, ist nach dem über General Mladić verhängten Urteil klar, dass nun genau das Gegenteil geschieht.
 
„Das Tribunal hat seine Mission nicht erfüllt, weil es von Anfang an ein politisches Gericht war, das nur mit dem Ziel gegründet wurde, um Serben zu verurteilen und die Verbrechen der NATO gegen das serbische Volk zu neutralisieren. Es war im Bürgerkrieg auf der Seite der Muslime und Kroaten. Die Serben haben der westlichen Militärallianz nie ihre 1995 auf die serbischen Stellungen abgeschossenen NATO-Bomben vergeben, ebensowenig ihre verbrecherische Bombardierung Jugoslawiens während der NATO-Aggression im Frühling 1999. Nur serbische Militärs sowie zivile Führer landeten in Den Haag, während muslimische und kroatische Bürgerkriegsakteure auf freiem Fuß blieben. Deshalb war dies das erwartete Ergebnis einer Farce, genannt Prozess, gegen einen serbischen General, der in Abwesenheit zu einer drakonischen Strafe verurteilt wurde.“
 
Dies sind die derzeitigen Gedanken eines durchschnittlichen serbischen Bürgers, unabhängig davon, ob er in Serbien lebt oder in der Republika Srpska, in deren Armee General Mladić in den 1990er Jahren Krieg führte.
 
Niemand in der Republika Srpska, deren Existenz durch das Friedensabkommen von Dayton bestätigt wurde, ist bereit, die massenhaften Opfer des Zweiten Weltkriegs und den Völkermord im Lager Jasenovac, wo der Unabhängige kroatische Ustascha-Staat 700 000 Serben, Juden und Roma ums Leben brachte, zu vergessen. Und es war eben die serbische Armee, die zu Beginn des Bürgerkrieges die Wiederholung der Geschichte verhindert hat und dabei von General Mladić geführt wurde.
 
Bereits nach den Freisprüchen für die kroatischen Generäle Gotovina, Markač und Čermak sowie für den Albaner Ramush Haradinaj und den Bosniaken Naser Orić, deren Namen mit einigen der schrecklichsten Verbrechen auf dem Balkan in Verbindung gebracht werden, hat das Haager Tribunal in den Augen der breitest möglichen, also nicht nur der serbischen Öffentlichkeit, seine Glaubwürdigkeit verloren. Der niederländische Richter, Alphons Orie, hat die 22 Jahre andauernde Verkrüppelung einer Institution, die zwar formal der UN-Gerichtshof ist, aber im Wesentlichen nach US-amerikanischen und NATO-Maßstäben urteilte, mit dem jüngsten Urteilsspruch lediglich zum Abschluss gebracht.
 
Als die Hauptanklägerin des Tribunals indes einst die Möglichkeit der Einleitung von Ermittlungen gegen die NATO ankündigte, wegen der kriminellen und vom Sicherheitsrat der UNO nicht erlaubten Bombardierung Jugoslawiens – einer der Gründerstaaten der UNO –, wurde sie von der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright arrogant daran erinnert, dass das Haager Tribunal und die Staatsanwaltschaft am meisten von den Vereinigten Staaten finanziert werden, was automatisch dazu führte, dass die Absichten von Carla Del Ponte zum Scheitern verurteilt waren. Somit wurden Javier Solana, Bill Clinton, Wesley Clark und viele andere im letzten Jahr des vergangenen Jahrhunderts für die von ihnen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den beispiellosen Missbrauch militärischer Gewalt und Verletzung des Völkerrechts de facto freigesprochen.
 
Vergebens waren auch die Beteuerungen des Chefanklägers des Haager Tribunals, Serge Brammertz, dass nur Ratko Mladić schuldig gesprochen und das Urteil nicht gegen das ganze serbische Volk gerichtet sei. Denn übersetzt auf die Verhältnisse auf dem Balkan bestärkt das Urteil nur das Narrativ, dass die größte Verantwortung für den Ausbruch des Bürgerkrieges und seine Folgen im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts bei den Serben liege. Es gibt wenige Menschen, die bereit sind, die Erklärung von Brammertz zu akzeptieren, allein schon aus dem Grund, weil die Verkündung eines solchen Urteils in der bosniakischen und kroatischen Öffentlichkeit als der Sieg der „Opfer über den Aggressor“ angesehen wird.
 
Es genügt, sich einfach die Titelseiten der Printmedien anzusehen oder einen Blick auf die Inhalte der sozialen Netzwerke zu werfen, um zu verstehen, wie weit die Urteile des Gerichtshofes in Den Haag von Recht und Gerechtigkeit, Versöhnung und Toleranz entfernt sind.
 
Das Gebiet von Bosnien und Herzegowina war auf dem Balkan schon immer ein „Pulverfass“ und wird diesen unrühmlichen Titel noch für viele Jahre tragen. Das Gerede über eine „gemeinsame europäische Zukunft“ und über die zahlreichen Vorteile eines gemeinsamen europäischen Raums ist aussichtslos. Es scheint, dass die interethnischen Animositäten und Leidenschaften nie größer waren. Jedes Volk feiert seine Verbrecher als seien es Helden und ist nicht bereit, die Täter in ihren eigenen Reihen zu brandmarken.
 
Aus diesem Grund haben Rechtsanwälte und Anwälte von beschuldigten und verurteilten Serben kein gutes Wort übrig für die doppelte Wirkung des Tribunals. Nach ihnen ist das ein politisches Gericht, das für die einen die Rolle des Opfers und für die anderen die Rolle des Aggressors in Voraus bestimmt hat.
 
„Es ist kaum möglich, ehemalige Mitglieder der serbischen Armee – von denen viele rechtskräftig verurteilt wurden, sei es wegen ihrer persönlichen oder ihrer Kommandoverantwortung – davon zu überzeugen, dass sie in ihrem eigenen Land, wo sie ihre eigenen Häuser und Familien verteidigt haben, Aggressoren gewesen sein sollen. Die Formulierung einer ‚gemeinsamen kriminellen Unternehmung‘ (Joint Criminal Enterprise), die das Gericht seinerzeit eingerichtet hat, als eine Art Doktrin und Matrix für das angebliche Verhalten der serbischen zivilen und militärischen Führung, hat seinen Glaubwürdigkeitstest offensichtlich nicht bestanden.“ so einer der Verteidiger der wegen Kriegsverbrechen angeklagten Serben, Rechtsanwalt Milan Romanić. Er fügt hinzu, dass „das Tribunal in der vergangenen Zeit seine eigenen Verfahrensregeln 70 Mal geändert hat und dadurch sowohl alle gefällten Urteile als auch seine eigene Glaubwürdigkeit in Frage gestellt hat“.
 
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„Nicht der Gerichtshof, sondern die NATO Kommission hat mich verurteilt“, schrie General Mladić auf, nachdem ihm das Urteil in Abwesenheit vorgelesen und die drakonische Strafe – lebenslange Haft – ausgesprochen wurde.
 
Während seiner langjährigen Haft und Krankheit hat der sichtlich erschöpfte Mladić in diesen schwierigen Momenten für ihn, seine Familie und für das gesamte serbische Volk seine Fassung und einen klaren Kopf bewahrt und das Tribunal, das er nie anders als „einen amerikanischen und NATO Gerichtshof“ empfunden hat, abgelehnt. Während er mit fest geballter Faust ausgesprochen hat, was er über den Gerichtshof denkt, und danach aus dem Gerichtssaal entfernt wurde, konnten viele auf der Roten Krawatte des Generals den Schriftzug der Russischen Kommunistischen Partei (KPRF) lesen.
 
Auch der Sohn von General Mladić hat kein Verständnis für den Gerichtshof, der während seines Bestehens von zwei Jahrzenten ausschließlich Serben verurteilte:
 
„Mein Vater ist ein Kriegsgefangener des NATO-Paktes“, sagte Darko Mladić den versammelten Reportern, nachdem das Urteil verkündet wurde.
 
Die Tatsache, dass Mladić seinerzeit als ehrwürdiger Soldat und Profi angesehen wurde, mit dem sich während des Bürgerkriegs gerne NATO-Generäle fotografieren ließen, darunter auch Wesley Clark, der 1999 das Abwerfen von NATO-Bomben auf Serben in Jugoslawien befahl, war ihm nicht von großem Nutzen, um seine Unschuld und während des Bürgerkrieges gezeigte Kompromissbereitschaft nachzuweisen.
 
Chronisten der Kriegsereignisse im ehemaligen Jugoslawien erinnern sich noch heute an den freundschaftlichen Austausch von Offiziersmützen zwischen Mladić und Clark im August 1994. Und diese „friedliche Koexistenz“ dauerte so lange an, bis Mladić angeklagt und am 26. Mai 2011 an das Haager Tribunal ausgeliefert wurde. Selbst der damalige serbische Präsident Boris Tadić gratulierte den „Sicherheitsdiensten zu einer erfolgreich abgeschlossenen Aufgabe“ bei der Verhaftung des alternden und sichtbar kranken Generals.
 
Der aktuelle serbische Präsident Aleksandar Vučić äußert sich etwas zurückhaltender zu dem Haager Urteil, bekundete aber seine entschiedene Absicht, Serbien weiter auf den Weg in die EU zu führen.
 
Auffällig ist, dass es wegen des gefällten Urteil zu keinen weitverbreiteten öffentlichen Meetings von Serben gekommen ist. Abgesehen von einigen Versammlungen in Ost-Sarajevo, Trebinje und Belgrad wurde kein energischerer Ausdruck der öffentlichen Unzufriedenheit verzeichnet. Lediglich in den sozialen Netzwerken ist es zu einem regelrechten Informations-Krieg gekommen, aber das ist nichts Neues, wenn die jeweiligen Argumente der serbischen sowie der muslimisch-bosniakischen Seite aneinandergeraten. Die Bosniaken triumphieren wegen der drakonischen Strafe, die dem serbischen General verhängt wurde, und werfen ihm darüber hinaus noch weitere Verbrechen vor, für die der Gerichtshof Mladić nicht zur Verantwortung gezogen hat.
 
Eine wirklich euphorische Befriedigung aufgrund des Urteils war in Srebrenica zu sehen, also in der Stadt, die während des Krieges eine UN-Schutzzone war und als ein erhabener Ort des kollektiv erlebten Leidens und als Ort der Ehrung der Opfer der Verbrechen, die von einigen Soldaten von Mladić begangen wurden, angesehen wird.
 
Die kollektive Verfolgung des Urteils in Den Haag ist zu einem totalen Delirium und zu einem Vergnügen geworden, das keinen Raum für Versöhnung und Koexistenz zulässt. Während die einen feierten, wurde ein junger Mann mitten im toleranten Europa von einigen Hitzköpfen körperlich dafür angegriffen, dass er zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung in Den Haag eine serbische Flagge entfaltet hatte.
 
Dass das Gebiet von Srebrenica während des Bürgerkriegs ebenso ein Schauplatz war, wo auch zahlreiche Verbrechen gegen Serben verübt wurden, wird von niemandem wahrgenommen. Die Tatsache, dass die gegenseitigen Verbrechen im kausalen Zusammenhang standen, ist an diesem Tag, aber auch ansonsten, nie wirklich Thema gewesen.
 
Die Serben von Srebrenica waren insbesondere von der jüngsten Freisprechung des Kriegskommandanten der muslimischen Armee in Srebrenica, Naser Orić, schwer betroffen. Nachdem sein Fall Gegenstand des Haager Tribunals war, sprach am 10. Oktober 2017 der Gerichtshof von Bosnien und Herzegowina in Sarajewo sein Urteil. Zahlreiche Beweise für die Ermordung von Serben wurden vor Gericht nicht gewürdigt und spielten für eine rechtkräftige Verurteilung keine Rolle.
 
Darum wird jene sogenannte Haager Gerechtigkeit auf dem Balkan als große Ungerechtigkeit empfunden. Dies ist der Hintergrund, vor welchem das Haager Tribunal dauerhaft die Bühne der Gerichtsbarkeit, und – wie viele sagen würden – die Bühne der Politik verlässt.
 
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
 
Quelle: Russia Today

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