Der Journalist Dragan Vujičić hat mit seinem beeindruckenden Buch den Opfern und Helden der NATO-Aggression ein persönliches Denkmal gesetzt. Dafür sprach er zwanzig Jahre später mit den Augenzeugen dieser finsteren Zeit.
„Ich habe noch nie eine so zerstörerische Kraft erlebt. Die Explosion in der getroffenen Post von Priština schleuderte die Leiche des Portiers Radovan Aleksić einige zehn Meter auf die Straße. Die Bombe traf das Büro von Lantana Jovanović und halbierte es. Die Frau blieb fast unversehrt, während ihr Kollege, der neben ihr im Büro saß, in Staub und Asche verwandelt wurde.
Durch die Explosion stürzte ein Teil des Betongebäudes ein. Die Trümmer trafen die Dachwohnung des nebenstehenden Hauses in der benachbarten JNA-Straße, in der die Familie Keča lebte. Eine Bombe verfehlte ihr Ziel und löschte die Häuser der Familien Gashi und Denda aus. Deniza (3), Rea(7) und Dea (9) Gashi wurden genauso zerstückelt wie ihre Eltern, Vater Mesut (40) und Mutter Adriana (33)“, erinnert sich der damalige Fähnrich Dobrica Stojanović und die Bombardierung von Priština am 7. April 1999.
Dies ist nur eine der vielen von Vujičić gesammelten Erinnerungen, welche er in seinem jetzt vom Mediencenter „Odbrana“ veröffentlichten Buch „Zrno rata“, auf Deutsch „Die Saat des Krieges“, zusammengetragen hat. Vujičić hatte selbst als junger Journalist von den Kämpfen und dem Leid der Zivilbevölkerung berichtet.
Ein Buch als Denk- und Mahnmal
Die Entscheidung ein solches Buch zu schreiben, fiel daher nicht zuletzt im Hinblick auf die Soldaten des damaligen Krieges.
„Sie empfinden eine große Ehre dafür, an der Verteidigung Serbiens teilgenommen zu haben. Sie sind sich bewusst, dass sie das Privileg hatten, in dem Krieg ihren Beitrag zu leisten und Teil der Geschichte zu sein. Damals habe ich mit Papier und Stift die Ereignisse miterlebt. Deshalb fühle auch ich mich privilegiert, weil ich das alles gesehen habe und die Helden von 1998 und 1999 getroffen habe. „Die Saat des Krieges“ gehört ihnen und meine Saat ist die ihre“, fasst Vujičić seine Beweggründe gegenüber „Politika“ zusammen.
Dabei lag die Hauptkampfzone während der NATO-Aggression nicht nur vor allem in Kosovo und Metochien, sondern dort insbesondere an der jugoslawischen Grenze zu Albanien.
„Die Kämpfe an der Grenze zu Albanien, in Košare und Paštrik, wurden lange Zeit in einen Mantel des Schweigens gehüllt. So als schäme sich unsere Gesellschaft für die Kriegsteilnehmer. Einige Ereignisse scheinen sogar langsam in Vergessenheit zu geraten, wie etwa die Bombardierung des Friedhofs von Priština“, mahnt der Autor.
Das Mädchen, das einen Brief an die Armee schrieb
Besonders das individuelle Leid habe ihn bei seiner Arbeit besonders bewegt. Wie etwa die Erinnerungen von Simonida Maksimović und ihres Vaters Duško.
Am 27.April 1999 zerstörte eine Rakete der NATO unter anderem das Grab von Sunčica Maksimović, Duškos verstorbener Frau und Simonidas Mutter.
Simonida, damals erst elf Jahre alt, schrieb daraufhin einen bewegenden Brief an die jugoslawische Armee bzw. an das Kommando des Priština-Korps. Dieser wurde später veröffentlicht:
„Ich weine jetzt viel mehr als damals als meine Mutter starb. Jetzt weiß ich nicht einmal, wo meine Mutter und mein Opa sind. Denn sie sind nicht mehr auf dem Friedhof. Dort gibt es nur noch ein riesiges Loch. Oma sagt, meine Mutter ist im Himmel. Ich habe aber Angst, dass die bösen Männer in den Flugzeugen sie auch dort finden und nochmals töten könnten. Deshalb schreibe ich diesen Brief an Sie. Lassen Sie nicht zu, dass meine tote Mutter noch einmal sterben muss. Vertreiben Sie sie aus meinem Himmel über Priština.“ Aus diesen wenigen Zeilen sprechen die traumatischen Erlebnisse eines Kindes.
Später wurden die sterblichen Überreste der Verstorbenen, deren Gräber durch die NATO zerstört wurden, in einem gemeinsamen Grab erneut bestattet.
Mit Mut gegen einen überlegenen Gegner
Die Luftverteidigung leistete damals Herausragendes und warf dem Feind alles entgegen, was sie hatte. Selbst die angeblich „unsichtbaren“ Kampfflugzeuge F-117A und F-16 konnten abgeschossen werden. Der Unteroffizier Saša Matić war mit dieser Aufgabe betraut und befand sich damals mit seiner Einheit in der Gegend um Uroševac.
„Anfang April habe ich eine „Hunter“-Drohne abgeschossen und erhielt dafür den Rang eines Leutnants“, erzählt Mitić. Auch erinnert er sich, wie mit der berühmten Flugabwehrkanone „Praga“ ein Erdkampfflugzeug vom Typ A-10 abgeschossen wurde. Die A-10 benutzte panzerbrechende Uran-Munition.
Manche militärischen Dinge, die im Buch genannt werden, waren zudem der Öffentlichkeit bis dato unbekannt. So etwa, dass die letzte US-amerikanische Drohne vom Typ „Predator“ tatsächlich erst nach dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen abgeschossen wurde. Damals, als die KFOR in Kosovo und Metochien einrückte und unsere Armee und Polizei sich zurückzog, gefolgt von einem langen Treck an serbischen Bürgern, die aus der Provinz flüchteten.
„Wir haben die letzte „Predator“ am 12. Juni um die Mittagszeit abgeschossen. Niemand hatte uns gesagt, dass es inzwischen einen Waffenstillstand gab“, so Mitić.
Ein Vater, der seinen Sohn sucht
Eine der beeindruckendsten und hoffnungsvollsten Geschichten in alle dem Grauen ist hingegen jene von Erna und Petar Varnju aus Novi Sad. Der junge Petar war im Krieg in Đakovica stationiert, sein Vater entschloss sich auf eigene Faust zu seinem Sohn zu fahren. Denn sämtliche Telefonverbindungen waren ausgefallen. Zwei Tage brauchte er, um als Anhalter bis nach Prizren zu reisen. Die dortige Polizei brachte ihn dann bis nach Đakovica. Auf dem Weg erlebte er drei Luftangriffe mit. Einer war der bekannte Fall, als die NATO einen Flüchtlingskonvoi von albanischen Zivilisten bombardierte.
Als er seinen Sohn erreichte, wurde ihm gestattet, einige Zeit bei der Truppe zu bleiben. Schließlich kehrte er nach Novi Sad zurück und überquerte auf dem Weg nach Hause die Žeželj-Brücke. Nur eine Stunde später zerstörte die NATO das Bauwerk.
Manche können bis heute nicht über das Erlebte reden
Bewegend ist aber auch das Schweigen mancher Veteranen. Denn dieses lässt nur erahnen, welches Grauen sie miterleben mussten. So etwa Darko Đorđević, damals Scharfschütze bei der 72. Spezialbrigade. Der stahlharte Kämpfer hätte sicher viel zu erzählen, über den Krieg und über die Einsätze, an denen er teilgenommen hat. Tatsächlich ist er sogar ziemlich bekannt. Denn die Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichte damals ein Profilfoto von ihm. Das Gesicht mit Tarnfarben geschminkt, ein Tuch um seinen Kopf gebunden.
Wie Vujičić sagt, habe ihn dieses Foto an ein altes Bild erinnert. Nämlich an eine Fotografie von Dragutin Matić, einen berühmten serbischen Beobachter während des Ersten Weltkrieges.
„Außer meiner Frau, mir und meinen Kameraden von der 72. Brigade wusste niemand, wer sich auf dem Foto vom April 1999 befindet. Es kam vor, dass mich ein Freund besuchte, das Bild sah und meinte „Schau mal, wie stark das Foto eines unserer Soldaten ist“, weiß Đorđević zu berichten.
Vujičić entschied sich daher dafür, dieses Foto mit dem Bild von Dragutin Mitić zu kombinieren und für das Cover seines Buches zu verwenden. Damit jedem bewusst wird, wie sich die serbischen Kämpfer vom Anfang und vom Ende des 20. Jahrhunderts gleichen.
Habt Ihr auch den Eindruck, dass die Personen und Geschichten aus dem Krieg von 1998 und 1999 nicht genügend gewürdigt werden? Warum könnte dem so sein? Schreibt es uns in die Kommentare.
Quelle: politika.rs